CientíficaEdición #2

LATINOamerica als imaginärer Ort

Die Deterritorialisierung und Transnationalität des „Lo latino“*

Vorwort

Ich begrüße mit großer Freude das Projekt für die digitale Zeitschrift «ReveLA. Realidades y visiones sobre Latinoamérica», ein ehrgeiziges Projekt, das die Lateinamerikastudien in Österreich stärken soll. Ich freue mich vor allem über die Hingabe und Motivation der Studierenden, die diese Zeitschrift organisieren und ich nehme mit folgendem Aufsatz sehr gerne an diesem interessanten Projekt teil. Ich wünsche den OrganisatorInnen alles Gute für die Zeitschrift und für die gesteckten Ziele!

Essay

Theoretischer Exkurs

Die aktuellen Ereignisse in unserer Welt zeigen, dass wir uns in einem Globalisierungsprozess befinden, den ich „global uncertainty“ nennen möchte. D.h.: im Zuge des Globalisierungsprozesses sind wir bei einem Punkt angelangt, wo wir auf keiner Ebene, sei aus auf der wirtschaftlichen, politischen oder auf der kulturellen, Gewissheit über die Ergebnisse bzw. Auswirkungen der Globalisierung haben. Nach dem Fall der Berliner Mauer 1989 und dem Ende des Kalten Krieges hat eine neue Weltordnung begonnen, die als Katalysator in den Attentaten des 11. Septembers (2001) und dem Krieg gegen den Terrorismus sowie in den Ereignissen des arabischen Frühlings und letztendlich in einem neuen Kalten Krieg wischen dem Westen und Russland mündete.
Während des Globalisierungsprozesses wurden mit großer Vehemenz sowohl in der Politik als auch in der Wirtschaft dessen Vorzüge genannt. Die Wirtschaftsgrößen haben mit so großem Nachdruck die transnationale Öffnung von Kapital und Waren für einen weltweiten Entwicklungsaufschwung beworben. Aber was ist in Wirklichkeit passiert?
Jene, die davon sprechen, wie sich unsere Zeit globalisiert, erzählen von fließenden Austausch- und Homogenisierungsprozessen, von Nationen, die ihre Grenzen öffnen und von Völkern, die miteinander kommunizieren. Ihre Argumente stützen sich auf die Steigerungen von Transaktionen und die Schnelligkeit oder Simultanität, mit der diese heutzutage stattfinden (García Canclini, 1999:34).
Unter anderem sind die Studien über Migrationen, Transnationalisierung und über andere interkulturelle Erfahrungen voll von Erzählungen über Konflikte, Grenzen, die sich verändern oder zerbrechen und Bestrebungen nationale (Nationalismus und/oder Fundamentalismus), ethnische und religiöse Einheiten wiederherzustellen. Wie die Politik der (wirtschaftlichen, politischen und kulturellen) Weltorganisationen zeigt, ist die angestrebte Globalisierung nur in einer Welt möglich, die davor durch den Kolonialismus organisiert worden ist und mit einer westlichen Kultur, die als ein Makrosystem agiert, das die aktuelle Welt miteinander verbindet.
Im wirtschaftlichen Bereich haben die großen transnationalen Konzerne von den neugewonnenen Märkten, natürlichen Ressourcen und von der billigen Arbeitskraft (Humankapital) in den Ländern der Peripherie (vor allem in Afrika, Asien und Lateinamerika) profitiert. Im kulturellen Bereich interpretieren vor allem die amerikanischen Vergnügungsindustrien die Kulturen neu und sie verbreiten sie über Massenmedien. D.h. speziell über die Nachrichtenkanäle, Filme und Digitalmedien (Internet) wird jedwede Art von Informationen, Wahrheiten und Realitäten geschaffen und neu erschaffen.
Das soll nicht heißen, dass der Globalisierungsprozess nicht existiert. Selbstverständlich existiert er und in diesem Sinne ist es unsere Aufgabe als Kulturwissenschaftler zu schauen, wie sich die Kultur und die sozialen Prozesse durch die „global uncertainty“ entwickeln. Welche Konflikte hat die Globalisierung als Instrument einer neuen Kolonisierung oder besser gesagt „Glo(bal)kolonisierung“ (die Frage ist, ob sich die Türen des kolonialen Gefängnisses, in dem wir uns befunden haben, schon geöffnet haben), der Rekapitalisierung von natürlichen und finanziellen Ressourcen und einer neuen Verteilung der kulturellen Identitäten sowohl auf lokaler als auch auf globaler Ebene mit sich gebracht? Und auf der anderen Seite müssen wir (als Kulturwissenschaftler) die sozialen Bewegungen, die Zunahme von Unzufriedenen und Empörten, von Nichtgehörten, von Vergessenen und Gedemütigten in unsere Betrachtungen miteinbeziehen.
Es bleibt zu untersuchen, welche Erzählungen über die „Anderen“ fortbestehen und welche in den migratorischen und kommerziellen Austauschprozessen und in den Austauschprozessen von globalem Widerstand neu geschaffen werden. Ebenso dürfen wir weder außer Acht lassen, wie sich die Art und Weise der Wahrnehmung von Integration (ohne neuen Möglichkeiten der Interkulturalität im Wege zu stehen) verändert noch die Praktiken der sozialen und kulturellen Akteure ignorieren.
Wenden wir uns nun im Detail den verschiedenen Definitionen und Reflexionen zum Thema der Globalisierung zu.
In der aktuellen Phase der Globalisierung überschreiten nicht nur multinationale Unternehmen und andere Institutionen die Grenzen der Nationalstaaten, sondern es wird auch das tägliche Leben der Menschen durch transnationale Netzwerke bestimmt. Arbeit, Gemeinschaft und Kapital werden ortsunabhängig. Ulrich Beck (1997) plädiert in seinem Buch „Was ist Globalisierung“ für einen umfassenderen Begriff von Globalisierung, der neben den ökonomischen Prozessen auch politische und kulturelle Aspekte miteinbezieht.
„Globalisierung“ bezieht sich nach Beck darauf, dass die Autonomie der Nationalstaaten durch transnationale Akteure und Netzwerke eingeschränkt wird. Es ist ein Prozess, der zu der Entstehung von transnationalen sozialen Verbindungen und Räumen führt, Lokalkulturen aufwerten und neue Kulturen hervorbringen kann. Kulturelle Globalisierung zielt nicht auf die Objektivität zunehmender Interdependenzen ab, sondern auf die Frage, wie sich der Welthorizont in der transkulturellen Produktion von Sinnwelten und kulturellen Symbolen öffnet und herstellt (Beck 1997:26).
Ein elementares Merkmal der kulturellen Globalisierung ist neben der „Fabrikation kultureller Symbole“ auch das Konterkarieren der Gleichsetzung von Nationalstaaten mit der Nationalgesellschaft, indem transkulturelle Kommunikations- und Lebensformen, Zurechnungen, Verantwortlichkeiten, Selbst- und Fremdbilder von Gruppen und Individuen hergestellt werden bzw. aufeinandertreffen (Beck, 1997:80).
In diesem Zusammenhang treffen wir auch immer wieder auf den Begriff der Transkulturalität: Im Konzept der Transkulturalität wird von einem Kulturverständnis ausgegangen, das Grenzen überschreitet und die heutige Komplexität der Kulturen miteinbezieht. Dies ist eine Folge z.B. der Migrationsprozesse, der weltweiten Kommunikationssysteme und wechselseitiger ökonomischer Abhängigkeiten. Im Konzept der Transkulturalität schwindet die Bedeutung der Nationalstaatlichkeit, es werden Grenzen überwunden und neue Verbindungen erzeugt (vgl. Welsch, 1997:67-90).
Heutzutage hat sich die Mobilität innerhalb und außerhalb einer Region in etwas Alltägliches verwandelt; Identitäten werden auf andere Art definiert, nämlich in Begriffen der Kultur, Macht, Eingliederung, Einfluss, Aktion und Produktion. Die Transkulturalität verweist auf die Prozesse der Hybridisierung, auf die kulturellen Deterritorialisierungen und Reterritorialisierungen, und sie bildet den Ort der Verhandlung zwischen dem Fremden und dem Eigenen (de Toro in Regazzoni, 2006:17).
Canclini bezieht sich mit den Begriffen Deterritorialisierung und Reterritorialisierung auf den Verlust der „natürlichen“ Beziehung von Kultur mit den geographischen und sozialen Territorien und gleichzeitig mit bestimmten territorialen Relokalisierungen von alten und neuen symbolischen Produktionen (García Canclini, 1990:288). Es geht ihm hier also um den Umstand, dass mit fortschreitender weltweiter kommunikativer Konnektivität durch elektronische Medien spezifische Kulturprodukte immer weniger mit definierten Territorien in Beziehung gebracht werden können. Dieser „kommunikativen Deterritorialisierung“ entspricht eine „physische Deterritorialisierung“ der fortschreitenden Migration, durch die es ebenfalls zunehmend schwerer ist, die Kulturen bestimmter Menschen auf einzelne Territorien zu beziehen. Gleichzeitig ist es aber so, dass Deterritorialisierung nicht losgelöst gesehen werden kann von den neuen Formen der Reterritorialisierung (García Canclini, 1990:304).
Laut Wagner bildet kulturelle Identitätssuche in lokalen, regionalen und nationalen Bezügen zur Selbstvergewisserung eine Seite der kulturellen Internationalisierung. Lokal- und Nationalkulturen als Ausdruck kultureller Traditionen sollen dabei ein Zusammengehörigkeitsgefühl vermitteln und dadurch den Menschen in den kulturellen Globalisierungsprozessen einen Orientierungs- und Identitätsanker bieten (Wagner, 2001:15).
Wagner geht weiter und meint, dass die verstärkte Identitätsbindung an lokale, regionale und nationale Kulturen, wie gegenwärtige Kriege und gewaltsame Konflikte zeigen, weit über Identitätsstabilisierung in Zeiten kultureller Globalisierung hinaus geht und auch zur ideologischen Begleitung und Legitimation von Unterdrückung, Unterwerfung und Kriegen dient. Inzwischen ist unbestritten, dass Globalisierung immer auch mit „Lokalisierung“ und „Regionalisierung“ einhergeht, und dass es gerade in Anbetracht von Globalisierung und Globalität überall zu einer neuen Betonung des Lokalen kommt (Wagner, 2001:15).
Roland Robertson (1998:197-202) beschreibt Die „Ungleichzeitigkeit von struktureller Globalisierung und kultureller Fragmentierung“ mit dem Wortspiel „Glokalisierung“, das inzwischen vielfach aufgegriffen und benutzt wird. Der Begriff der kulturellen Globalisierung wird durch „Glokalisierung“ – eine Kombination der Worte Lokalisierung und Globalisierung ersetzt, um „die Bedeutung lokaler Einheiten im globalen Zeitalter zu akzentuieren bzw. die lokale Implikations- und Erscheinungsebene der weltumspannenden Globalisierung zu akzentuieren. Globalisierung ist also kein Prozess, welcher sich über Lokalitäten oder ethnische Nationalismen hinwegsetzt, weil das Lokale zu einem großen Teil auf einer trans- oder superlokalen Ebene gestaltet wird. Es ist infolgedessen unbestreitbar, dass Globalisierung als Prozess der Verdichtung sozialer Räume immer eine Form der Lokalisierung impliziert, d.h. Globalisierung kann nicht ohne Lokalisierung stattfinden (vgl. Robertson, 1998:214).
In diesen Zusammenhang stellt Canclini fest, dass sich die Identitäten der Subjekte aktuell in interethnischen und internationalen Prozessen formen (García Canclini, 2006:161), sozusagen zwischen den „global flows“, die bereits Appadurai (2000) postuliert und erwähnt. Heutzutage haben wir eine Vorstellung von der Bedeutung eines Subjektes nicht nur vom Gesichtspunkt der Kultur aus, in der das Subjekt geboren sind, sondern auch von einer großen Vielfalt von Symbolen und Verhaltensmodellen aus (García Canclini, 2006:161). Appadurai erweitert diese Vorstellung noch durch das Konzept der „Ethnoscapes“, d.h. der globalen ethnischen Räume. Zentraler Ausgangspunkt ist für ihn „die Veränderung bei der sozialen, räumlichen und kulturellen Entstehung von Gruppenidentitäten“. Unter „Ethnoscapes“ versteht man die Landschaften der Gruppenidentitäten, also die ethnischen Räume jener Personen, welche das Zeitalter der Globalisierung prägen, in dem wir leben. Hierzu zählt Appadurai vor allem Touristen, Immigranten, Flüchtlinge, Exilanten, Gastarbeiter bzw. andere flexible Gemeinschaften und Personen, welche ständig in Bewegung sind (Appadurai, 2000:33).
Über die letzten Jahre hat sich eine internationale Diskussion und Forschungsperspektive unter dem Label Transnationalisierung und transnationale (Sozial-) Räume entwickelt. Dieser Zugang entwickelte sich vor allem in Auseinandersetzung mit dem Globalisierungsdiskurs.
Trotz vieler Nuancierungen im Einzelnen lässt sich ein von sehr vielen getragenes Grundverständnis ausmachen. In einem sehr weit gefassten Begriffsverständnis bezieht sich transnationalism auf Zugehörigkeitsgefühle, kulturelle Gemeinsamkeiten, Kommunikationsverflechtungen, Arbeitszusammenhänge und alltägliche Lebenspraxis sowie die hierauf bezogenen gesellschaftlichen Ordnungen und Regulierungen, die die Grenzen von Nationalstaaten überschreiten (Pries, 2002:02). Diese emergenten grenzüberschreitenden gesellschaftlichen Formationen können eine vorwiegend ökonomische, soziale, kulturelle oder politische Dimension haben – in aller Regel ist ihre Dynamik aber durch komplexe Wechselwirkungen zwischen diesen Dimensionen bestimmt (vgl. Pries 2008:168-222).
In diesem Kontext behandeln wir heutzutage transnationale Migrationsprozesse vor allem im Hinblick auf die Herausbildung neuer grenzüberschreitender Sozialräume bzw. social formations, die als reale Verflechtungsbeziehungen zwischen dem einen Extrem ausschließlich transkultureller Gemeinsamkeiten und dem anderen Extrem sehr dichter und verfestigter dauerhafter Sozialbeziehungen verstanden werden (Pries, 2008:87). Durch die Restrukturierung des Verhältnisses zwischen Herkunftsregion oder ‚Heimat’ und Gast- oder Ankunftsregion entstehen im Rahmen von Transnationalisierung auf Dauer gestellte multiple Identitäten. Ganz offensichtlich sind auch transnationale Sozialräume nach den Gesichtspunkten von Ethnie, Geschlecht, Alter und Klasse differenziert (vgl. Pries 2002).
Pries meint, dass die Transnationalisierung in einer handlungs- und akteurszentrierten Perspektive auf soziale Prozesse und auf das Entstehen transnationaler sozialer Formationen und transnationaler Sozialräume fokussiert und weniger auf das makrostrukturelle subjektlose Wirken von weltumspannenden Triebkräften. In diesem Zusammenhang stehen im Mittelpunkt von Transnationalisierungsanalysen alltagsweltliche Beziehungsgeflechte und grenzüberschreitende Interaktionen von Subjekten und Akteursgruppen „von unten“ und nicht die Herausbildung globaler Makrostrukturen oder Weltsysteme (Pries, 2008:166).
Zu diesem Punkt beschreibt Pries:
„Ausgangspunkt empirischer Analysen sind deshalb häufig soziale (MigrantInnen und Migration), politische (Interessengruppen, Lobby- und Bewegungs-organisationen) und kulturelle (religiöse oder ethnische Mobilisierung) Phänomene und nicht ökonomische (Kapital- oder Handelsströme, internationale Konzerne) oder informatorische (Nachrichten- oder Filmproduktion) Prozesse; das Internet wird z.B. weniger als Gegenstand oder Ausdruck von Globalisierung, sondern vielmehr als informationstechnisches Medium und kommunikatives Mittel für die Herausbildung transnationaler Sozialräume thematisiert“ (Pries, 2008:166).
„New Nationalism“ bezeichnet eben diese Herausforderung, bei der der Nationalstaat nicht mehr als a priori gegeben angesehen wird, sondern seine Rolle und Aufgaben anhand veränderter sozialer Realitäten definiert werden (Appadurai 2000:27). Stellen wir uns nun mit Basch die Frage: Beansprucht die Transnationalismusforschung nun „a space in between nation-states“ (Basch et al., 1997:08)? Transnationale Migration, veränderte Kapitalformen und -flüsse, multinationale Unternehmen und multilaterale Abkommen sind dabei einige Beispiele dieser veränderten Realität, welche die Neudefinierung des Nationalstaates unabdingbar machten.

Die Transnationalisierung des „Lo Latino“ – ein praktisches Beispiel

Nach diesem theoretischen Exkurs über die Begriffe „Globalisierung“ und „Transnationalisierung“ können wir uns nun auf praktischer Ebene im Speziellen die Transnationalisierung des lateinamerikanischen Bildes und die Konstruktion einer neuen hybriden Identität mit Hilfe von transkulturellen und hybriden Symbolen näher anschauen. Wir widmen uns der Frage, wie sie entstanden ist, in welchen Räumen und mit welchen symbolischen Prozessen sie repräsentiert wird.
In diesem Zusammenhang müssen wir zuerst einmal einige Perspektiven der sozialen Repräsentationen und der transnationalen Produktion von Bildern oder kulturellen Symbolen -was Canclini (1990) als Deterritorialisierung der lateinamerikanischen Symbole bezeichnet- in Lateinamerika in Zeiten der Globalisierung und der Transnationalisierung beleuchten. Wir müssen dabei identifizieren, welche Attribute bei der Repräsentation „des Lateinamerikanischen“ (Lo „Latino“) ausgewählt und bevorzugt wurden. Und wir müssen analysieren, auf welche Weise diese Attribute verwaltet und reproduziert werden und wie sie neue essentialistische Identitäten bilden und neue Diasporen außerhalb von Lateinamerika hervorrufen.
Am Beispiel des Verhältnisses zwischen Lateinamerika und den USA sehen wir den komplexen Prozess der Herausbildung von Nationalstaaten in Lateinamerika, deren Durchdringung mit US-amerikanischen Symbolen und (Kultur-) Gütern sowie die zunehmende ‚LATINOamericanización’ vor allem der US-amerikanischen Großstädte. Wichtig ist dabei zu schauen, wie dieser Prozess entsteht, wie er sich entwickelt und welche kulturelle Identität sich daraus bildet.
Was ist „lo latino“ (das Lateinamerikanische), wer ist „Latino“, wo befindet sich „lo latino“?
Wenn ich die Frage stellen würde, was „latino“ bedeutet, und wenn mir jemand antworten würde, dass es ein Wort ist, das den Begriff „Lateinamerika“ abkürzt, oder dass es ein Synonym für „Latinoamericano“ (Lateinamerikaner) ist und/oder dass es die Übersetzung vom Englischen „latin“ ist, so müsste ich antworten: Ja, so ungefähr… Und wenn jemand mir antworten würde, dass „lo latino“ in Beziehung steht mit Schlagwörtern wie Ricky Martin, Shakira, Jennifer Lopez, Salma Hayek, Antonio Banderas, Mariachi Filmen, Speedy Gonzalez, Texmex-Speisen, los wochos von McDonalds, Chilli con Carne, MTV Latino, Latin Grammy Awards etc. etc. etc…, würde ich Ihnen sagen: Ja– auch das ist alles richtig.
Schauen wir nun, warum das so ist und schauen wir, woher das Konzept „Latino“ kommt und warum es schon seit seiner Entstehung ein translokales Konzept ist.
Das Wort „latino“ ist einer von zahlreichen Begriffen, die für die Kategorisierung der Gesamtheit von Personen verwendet wird, die in den USA leben und deren Ursprung in einem lateinamerikanischen Land liegt. Ein weiteres oft verwendetes Wort ist „hispano“, oder die englische Übersetzung „hispanic“. Dieser Begriff wurde schon 1978 von den Regierungsbehörden in den USA zur offiziellen ethnischen Bezeichnung für die lateinamerikanischen Migranten erkoren. > (S.50)
Die aktuelle Dynamik des Prozesses der Globalisierung zeigt klar, dass „lo Latino“ über seine territorialen Grenzen hinausgeht; das heißt, dass der Begriff „Latino“ mehr ist als nur ein geographischer Begriff. Er hat mehr zu tun mit der Diaspora in den USA und der gesamten Symbologie der kulturellen Identität der Migranten, die in einem Kontext mit der Diskriminierung steht, die die Migranten im Ausland erfahren. Ebenso sind in diesem Kontext die neuen Repräsentationsformen von Bedeutung, die sich in Richtung Europa transnationalisieren dank der Migrationsprozesse und der Massenmedien, das heißt die Nachrichten und die amerikanischen Filme, in denen auf „lo latino“ Bezug genommen wird.
Die Begriffe „latino“ oder „hispano“ erlangten ihre Bedeutung in einem transnationalen Kontext. Obwohl die Bilder von „lo latino“ ein Referenz- und Identifikationsrahmen innerhalb der Kulturindustrien des Kontinents sind, ist es doch eine Betrachtung von außerhalb (das heißt innerhalb der transnationalen Räume und des interkulturellen Kontexts), bei der man sehen kann, wie stark die Stereotypen zum Begriff „latino“ im Netz der Faktoren verankert sind, die von außerhalb Lateinamerikas seine kulturelle Identität konstituieren.
Hier sticht zum Beispiel hervor, dass bei der Volkszählung in den USA nicht mehr nur nach der Hautfarbe gefragt wird, sondern dass auch noch angeben werden muss, ob man „Spanish/Hispanic/Latino“ sei. Verbindend zwischen den Mitgliedern der rasant wachsenden latin community, die in den USA 2010 mehr als 50 Millionen Mitglieder zählen dürfte, ist auch die Hoffnung, einmal ein ernst genommener Bestandteil der US-Gesellschaft zu werden (vgl. Humes et al., 2011)
Wir müssen uns auch die Frage über die Wissensmethoden stellen, von denen aus diese Bilder des Latino entstehen. Und es ist dieser Rahmen, in dem die Feldstudien, im speziellen die sogenannten „Latin American Studies“ einen zentralen Ort erlangen, weil die akademischen Räume auch strategische Szenarien sind, in denen „das Lateinamerikanische“ diskutiert und verhandelt wird (García Canclini 2002:32). Um mit den Worten Román de la Campas zu sprechen: „Am Anfang der Globalisierung befinden sich in den USA mehr Wissenschaftler, die ihre komplette Zeit damit verbringen, symbolisches Kapital über Lateinamerika zu produzieren als in allen lateinamerikanischen Ländern zusammen“ (de la Campa, 1999:5). Ebenso erscheinen 80% der Zeitschriften über lateinamerikanische Literatur in den USA. In diesem Rahmen beschreibt Alberto Moreiras, dass in den vergangenen Jahrzehnten der nordamerikanische Lateinamerikanismus sicherlich durch die drastischen demographischen Veränderungen und die massive lateinamerikanische Immigration in die Vereinigten Staaten beeinflusst worden ist. Davon ausgehend kann er also keine rein epistemische Beschäftigung mit den «Anderen» über die weit entfernten Grenzen hinaus sein. Die Grenzen haben sich zudem nach Norden und nach innen verschoben. (Moreiras, 2001:28).
Abschließend halten wir also fest:
Bei der Frage, wie wir die verschiedenen Formen der Vorstellungen über Lateinamerika unterscheiden können und was eigentlich „lo Latino“ ausmacht, ist es meines Erachtens letztendlich wohl wichtiger, die interpretativen Rahmenbedingungen, um die herum verschiedene Repräsentationen und Bilder produziert und dargelegt werden, kritisch zu hinterfragen als weiter eine Referenz zu suchen, die als „Wahrheits“-Träger über das Lateinamerikanische fungieren soll, um die „falschen“ Repräsentationen zu hinterfragen. In erster Linie müssen wir anerkennen, dass Kultur kein isoliertes Gebiet an macht- und wirtschaftspolitischen Beziehungen ist, sondern, dass die Reproduktion von kulturellem Kapital immer mehr von der Kontrolle über die Bilder und ihre Bedeutungen abhängt. Davon ausgehend ist es notwendig, die Artikulation von kulturellen Forschungen sowie Kultur- und Kommunikationspolitik neu zu überdenken in Bezug auf seine Bedeutungen bei der Einordnung „des Lateinamerikanischen“ in der Welt und in Zeiten der Globalisierung neu zu überdenken.
Anstatt nach der „authentischen lateinamerikanischen Identität“ zu fragen, erscheint es sinnvoller, die Wissensmethoden zu untersuchen, die die Formulierung dieser Frage und die Artikulation der Diskurse, die sie lösen sollen, erst möglich machen. Ebenso ist es wichtiger, die Geschichte und die Produktionsmechanismen dieser Wahrheit und dieser Repräsentationen zu erforschen als die „Wahrheit“ der lateinamerikanischen Identität, unter Annahme, dass diese existiert, zu suchen.
Letztendlich können wir sagen, dass man nicht nur verstehen muss, wie der Prozess der Transkulturation, der Repräsentation und der Rezeption von Kultur funktioniert, sondern auch, wie man ihn gebraucht und wofür man ihn gebraucht bei der Identifizierung von sozialem Raum, kulturellem Kapital und, als Konsequenz aus diesen beiden, von kultureller Praxis. Wir können auch feststellen, dass Kulturen keine eng begrenzten Körper sind, die sich durch die Differenz gegenüber anderen Kulturen auszeichnen, sondern ein Produkt des Austausches von Ideen, Dingen und Menschen, sowie Ergebnisse von Wanderungs- und Migrationsprozessen. Alle Kulturen sind in gewissem Ausmaß erst aus dem Zusammenfließen verschiedener Kulturen entstanden, also hybrid, und entwickeln sich aus Kombinieren und Neuzusammensetzen. Um eine Gruppe zu verstehen, muss beschrieben werden, wie sie sich fremde materielle und symbolische Produkte aneignet und neu interpretiert.

Noten

* Dieser Aufsatz ist Teil einer umfangreicheren Publikation mit dem Titel „Remapping Latinoamérica. Von der (trans-) modernen zur postmodernen Hybridität“, die in Kürze veröffentlicht werden soll.

 Dr.phil. Jesus Nava Rivero

Archäologe, Künstler und Kulturwissenschaftler, lebt als freier Autor und Dozent in Wien. Lehrbeauftragter am Institut für Internationale Entwicklung der Universität Wien und am Institut für Kunstgeschichte an der Karl-Franzens-Universität Graz (2008-09).
Veröffentlichungen in diversen Zeitschriften zu den Themen Cultural Studies, Estudios Culturales, Kulturtransfer, Visuelle Kultur, Museumstheorie und Lateinamerikanische Kunst.

Literaturverzeichnis

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