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Der jüngste lateinamerikanische Boom: literarische Reportagen
Von Erhard Stackl*
Spätestens vor sechs Jahren, als ich in der Wiener Hauptbücherei bei der Präsentation Ihres neuen Buches die international bekannte mexikanische Autorin Alma Guillermoprieto vorstellen durfte, wurde mir klar, dass sich in Lateinamerika ein neuer literarischer Boom ankündigte. Alma Guillermoprieto stellte ihr neues Buch „Havanna im Spiegel“ vor (auf Englisch unter dem Titel „Dancing with Cuba“, auf Spanischals „La Habana en un espejo“ erschienen), das – wie die meisten ihrer Werke – pure Non-Fiction, im Grunde Journalismus war. Alma, eine international erfolgreiche Vertreterin dieser in der spanischsprachigen Welt im Aufschwung befindlichen Gattung, erzählte mir, dass sie ihre Erfahrungen auch an jüngere Generationen weitergab: Als Lehrerin an der 1994 von Gabriel García Márquez im kolumbianischen Cartagena de Indias gegründeten „Stiftung für den neuen ibero-amerikanischen Journalismus“ (Fundación Nuevo Periodismo Iberoamericano, FNPI). Der große Gabo hatte ja selbst als Journalist begonnen und war zeitlebens der Überzeugung geblieben, dass man bei dieser Tätigkeit „in innigen Kontakt mit dem Leben“ treten könne.
Drei Jahre später, Ende 2012, hielt ich mich im Rahmen eines Forschungssemesters für den „Universitätslehrgang Interdisziplinäre Lateinamerika-Studien“ in Santiago de Chile auf. Ich war seit meinem ersten Besuch im Jahr 1983 mehrmals in der chilenischen Hauptstadt gewesen und hatte mich dabei immer auch für die Entwicklung in den Armenvierteln, den „poblaciones“ der Fünf-Millionen-Stadt, interessiert. Die Elendsviertel der 1980er Jahre, in denen es Hungermärsche und gewaltsam unterdrückte politisches Aufstände gegen die Militärdiktatur gegeben hatte, zeigten sich stark verändert. Manche Viertel gliederten sich auf der untersten Ebene der Konsumgesellschaft ein; es gab informelle Straßenmärkte, aber auch glänzende Einkaufszentren mit Billigware und langfristigen Teilzahlungsplänen für die einkommensschwache, aber zahlreich vorhandene Kundschaft. Gleich daneben fraß sich, wie in vielen lateinamerikanischen Städten, die gewalttätige Drogenkriminalität mitten durch die Wohnviertel. Am Eingang eines von ihnen, La Legua Emergencia, wurde ich von schwer bewaffneten Polizisten in gepanzerten Fahrzeugen am Weitergehen gehindert.
Statt selbst meine Haut zu riskieren (was als gerade angekommener Ausländer sicherlich idiotisch gewesen wäre), suchte ich nach schriftlichem Material. Ich fand einen aufregenden Bericht über die „Drogendiktatur“ von La Legua Emergencia, die der Journalist Gustavo Villarrubia nach langen Recherchen in La Legua geschrieben hatte. Publiziert wurde sie mit Unterstützung von CIPER, dem „Centro de Investigación Periodística“. Diese renommierte Stiftung für investigativen Journalismus war in Santiago 2007 von der schon zu Zeiten der Militärdiktatur als besonders mutig bekannten Magazinjournalistin Mónica González gegründet worden.
Nach Lektüre dieser Geschichte stand für mich fest, dass ich mehrere solcher, das Leben im heutigen Lateinamerika realistisch und stilistisch anspruchsvoll darstellender Reportagen sammeln und übersetzen wollte. Wenn ich mit deutschsprachigen Freunden und Bekannten sprach, die ein durchschnittliches Interesse an Lateinamerika hatten, beschlich mich schon seit längerem das Gefühl, dass ihre Vorstellungswelt vor allem durch die Literatur des „magischen Realismus“ geprägt war. Aber die einst mitreißende Kraft der „typisch lateinamerikanischen“ Romane, bei denen Mythen und Wunder den Alltag durchdringen, hat sich in den Wiederholungen der vielen Epigonen erschöpft.
Die Realität, so schien es mir, wurde viel eher in aktuellen Reportagen abgebildet, die in der Tradition der schon zu Zeiten der Kolonisation verfassten „Crónicas“, aber auch der jüngeren Testimonio-Literatur standen (etwa des Argentiniers Rodolfo Walsh, der wegen seiner Berichte über Menschenrechtsverletzungen der Militärjunta 1977 erschossen wurde).
Ich nahm in Santiago mit CIPER, dann aber auch mit FNPI in Kolumbien Kontakt auf und bat, mir die Wege zu herausragenden Vertreterinnen und Vertretern des neuen ibero-amerikanischen Journalismus zu ebnen. Einer dieser Autoren ist der hier vertretene Kolumbianer Alberto Salcedo Ramos, der selbst in der FNPI lehrt und zusammen mit Alma Guillermoprieto und der Argentinierin Leila Guerriero zu den Spitzen des literarischen Journalismus zählt.
Während ich auf der Suche nach Texten für meine Anthologie war, interessierte ich mich gleichzeitig für die Entwicklung dieses Genres.
Zu Gabos Zeiten lernte man das Schreiben in engen Zeitungsredaktionen und in der Druckerei, aber auch bei langen Gesprächen mit Kollegen in Cafés und schummrigen Bars. Heute findet man die angehenden Journalistinnen und Journalisten Lateinamerikas in den Hörsälen von Universitäten und in Bildungsstätten wie eben der FNPI, wo es Kurse und Wettbewerbe in unterschiedlichen Kategorien gibt – neben literarischen Reportagen z.B. auch Gerichtsberichterstattung oder das Verfolgen von Friedensverhandlungen (wie jenen zwischen der Guerilla und der Regierung Kolumbiens), Online-Berichte und die neuesten Formen des Datenjournalismus.
Im Bereich der literarischen Reportagen haben die Nachwuchsschreiber natürlich auch die Arbeiten großer Vorbilder rezipiert, etwa des polnischen Weltstars Ryszard Kapuściński, der seine internationale Karriere mit Berichten aus Lateinamerika (z. B. über den „Fußballkrieg“ zwischen El Salvador und Honduras) begonnen hatte. Die Jungen befassen sich mit dem „New Journalism“, der in den 1960ern von US-Größen wie Tom Wolfe („Radical Chic“) oder Truman Capote („Kaltblütig“) geschaffen wurde, und mit dem verrückt-subjektiven „Gonzo-Journalismus“ eines Hunter S. Thompson.
Diese damals junge US-Garde bildete gesellschaftliche Umbrüche ab, die sie selbst aus der Nähe beobachtet und miterlebt hatte. So ist es auch heute in Lateinamerika. Abseits alter Tropen- und Einsamkeitsklischees tauchen die Journalisten in die brodelnde Welt der Megacitys ein und beschreiben Verhaltensmodelle in dieser stets von Gewalt überschatteten Welt: erpresserische Entführungen, Menschenschmuggel und die wachsende Macht der Drogenbanden. Der Antrieb ist immer ein aufklärerischer, demokratischer – auch wenn sie damit das eigene Leben in Gefahr bringen.
Der Schriftsteller Darío Jaramillo Aguedo (wie Salcedo Ramos ein Kolumbianer) schreibt im Vorwort einer von ihm herausgebenden Anthologie aktueller „Crónicas“, diese Darstellungsform der erzählenden Prosa sei in Lateinamerika die derzeit „spannendste und am besten geschriebene Lektüre“. Darüber kann man sicher streiten. Für außerhalb dieser aufstrebenden Weltregion Lebende ist sie aber sicher eine gute Möglichkeit, der gegenwärtigen Lebensrealität und Kultur Lateinamerikas näher zu kommen.
Literatur:
Erhard Stackl (Hg.): „Atención! Die besten Reportagen aus Lateinamerika“ Czernin Verlag Wien 2014, 208 Seiten, 19,90 Euro
Carmen Pinilla, Frank Wegner (Hg.): „Verdammter Süden. Das andere Amerika“. Edition Suhrkamp, Berlin 2014, 315 Seiten, 20,56 Euro
Darío Jaramillo Agudelo, ed: “Antología de crónica latinoamericana actual” Alfaguara/Grupo Editorial Random House, Barcelona 2012, 656 páginas, 21,50 Euro
*Erhard Stackl (1948, Wien-Mödling), MA in Latin American Studies der Universität Wien. 1970 Gründungsmitglied des Nachrichtenmagazins „profil“, später dort Leiter des Ressorts Außenpolitik und stellvertretender Chefredakteur. Ab 1991 bei der Wiener Tageszeitung „Der Standard“, seit 2009 freischaffender Autor und Journalist. Beiträge Stackls sind u.a. ,in „Die Zeit“ (Hamburg), „El País“(Madrid) in „The New York Times – International Weekly“, im „Südwind-Magazin“ und im „Jüdischen Echo“ erschienen. Stackl ist Träger des Menschenrechtspreises des Österreichischen Roten Kreuzes. Sein Buch „1989 – Sturz der Diktaturen“ wurde 2009 mit dem Bruno-Kreisky-Preis ausgezeichnet. Jüngste Buchveröffentlichung: „Atención – Die besten Reportagen aus Lateinamerika“ (Czernin Verlag).
[:de]Der jüngste lateinamerikanische Boom: literarische Reportagen
Von Erhard Stackl*
Spätestens vor sechs Jahren, als ich in der Wiener Hauptbücherei bei der Präsentation Ihres neuen Buches die international bekannte mexikanische Autorin Alma Guillermoprieto vorstellen durfte, wurde mir klar, dass sich in Lateinamerika ein neuer literarischer Boom ankündigte. Alma Guillermoprieto stellte ihr neues Buch „Havanna im Spiegel“ vor (auf Englisch unter dem Titel „Dancing with Cuba“, auf Spanisch als „La Habana en un espejo“ erschienen), das – wie die meisten ihrer Werke – pure Non-Fiction, im Grunde Journalismus war. Alma, eine international erfolgreiche Vertreterin dieser in der spanischsprachigen Welt im Aufschwung befindlichen Gattung, erzählte mir, dass sie ihre Erfahrungen auch an jüngere Generationen weitergab: Als Lehrerin an der 1994 von Gabriel García Márquez im kolumbianischen Cartagena de Indias gegründeten „Stiftung für den neuen ibero-amerikanischen Journalismus“ (Fundación Nuevo Periodismo Iberoamericano, FNPI). Der große Gabo hatte ja selbst als Journalist begonnen und war zeitlebens der Überzeugung geblieben, dass man bei dieser Tätigkeit „in innigen Kontakt mit dem Leben“ treten könne.
Drei Jahre später, Ende 2012, hielt ich mich im Rahmen eines Forschungssemesters für den „Universitätslehrgang Interdisziplinäre Lateinamerika-Studien“ in Santiago de Chile auf. Ich war seit meinem ersten Besuch im Jahr 1983 mehrmals in der chilenischen Hauptstadt gewesen und hatte mich dabei immer auch für die Entwicklung in den Armenvierteln, den „poblaciones“ der Fünf-Millionen-Stadt, interessiert. Die Elendsviertel der 1980er Jahre, in denen es Hungermärsche und gewaltsam unterdrückte politisches Aufstände gegen die Militärdiktatur gegeben hatte, zeigten sich stark verändert. Manche Viertel gliederten sich auf der untersten Ebene der Konsumgesellschaft ein; es gab informelle Straßenmärkte, aber auch glänzende Einkaufszentren mit Billigware und langfristigen Teilzahlungsplänen für die einkommensschwache, aber zahlreich vorhandene Kundschaft. Gleich daneben fraß sich, wie in vielen lateinamerikanischen Städten, die gewalttätige Drogenkriminalität mitten durch die Wohnviertel. Am Eingang eines von ihnen, La Legua Emergencia, wurde ich von schwer bewaffneten Polizisten in gepanzerten Fahrzeugen am Weitergehen gehindert.
Statt selbst meine Haut zu riskieren (was als gerade angekommener Ausländer sicherlich idiotisch gewesen wäre), suchte ich nach schriftlichem Material. Ich fand einen aufregenden Bericht über die „Drogendiktatur“ von La Legua Emergencia, die der Journalist Gustavo Villarrubia nach langen Recherchen in La Legua geschrieben hatte. Publiziert wurde sie mit Unterstützung von CIPER, dem „Centro de Investigación Periodística“. Diese renommierte Stiftung für investigativen Journalismus war in Santiago 2007 von der schon zu Zeiten der Militärdiktatur als besonders mutig bekannten Magazinjournalistin Mónica González gegründet worden.
Nach Lektüre dieser Geschichte stand für mich fest, dass ich mehrere solcher, das Leben im heutigen Lateinamerika realistisch und stilistisch anspruchsvoll darstellender Reportagen sammeln und übersetzen wollte. Wenn ich mit deutschsprachigen Freunden und Bekannten sprach, die ein durchschnittliches Interesse an Lateinamerika hatten, beschlich mich schon seit längerem das Gefühl, dass ihre Vorstellungswelt vor allem durch die Literatur des „magischen Realismus“ geprägt war. Aber die einst mitreißende Kraft der „typisch lateinamerikanischen“ Romane, bei denen Mythen und Wunder den Alltag durchdringen, hat sich in den Wiederholungen der vielen Epigonen erschöpft.
Die Realität, so schien es mir, wurde viel eher in aktuellen Reportagen abgebildet, die in der Tradition der schon zu Zeiten der Kolonisation verfassten „Crónicas“, aber auch der jüngeren Testimonio-Literatur standen (etwa des Argentiniers Rodolfo Walsh, der wegen seiner Berichte über Menschenrechtsverletzungen der Militärjunta 1977 erschossen wurde).
Ich nahm in Santiago mit CIPER, dann aber auch mit FNPI in Kolumbien Kontakt auf und bat, mir die Wege zu herausragenden Vertreterinnen und Vertretern des neuen ibero-amerikanischen Journalismus zu ebnen. Einer dieser Autoren ist der hier vertretene Kolumbianer Alberto Salcedo Ramos, der selbst in der FNPI lehrt und zusammen mit Alma Guillermoprieto und der Argentinierin Leila Guerriero zu den Spitzen des literarischen Journalismus zählt.
Während ich auf der Suche nach Texten für meine Anthologie war, interessierte ich mich gleichzeitig für die Entwicklung dieses Genres.
Zu Gabos Zeiten lernte man das Schreiben in engen Zeitungsredaktionen und in der Druckerei, aber auch bei langen Gesprächen mit Kollegen in Cafés und schummrigen Bars. Heute findet man die angehenden Journalistinnen und Journalisten Lateinamerikas in den Hörsälen von Universitäten und in Bildungsstätten wie eben der FNPI, wo es Kurse und Wettbewerbe in unterschiedlichen Kategorien gibt – neben literarischen Reportagen z.B. auch Gerichtsberichterstattung oder das Verfolgen von Friedensverhandlungen (wie jenen zwischen der Guerilla und der Regierung Kolumbiens), Online-Berichte und die neuesten Formen des Datenjournalismus.
Im Bereich der literarischen Reportagen haben die Nachwuchsschreiber natürlich auch die Arbeiten großer Vorbilder rezipiert, etwa des polnischen Weltstars Ryszard Kapuściński, der seine internationale Karriere mit Berichten aus Lateinamerika (z. B. über den „Fußballkrieg“ zwischen El Salvador und Honduras) begonnen hatte. Die Jungen befassen sich mit dem „New Journalism“, der in den 1960ern von US-Größen wie Tom Wolfe („Radical Chic“) oder Truman Capote („Kaltblütig“) geschaffen wurde, und mit dem verrückt-subjektiven „Gonzo-Journalismus“ eines Hunter S. Thompson.
Diese damals junge US-Garde bildete gesellschaftliche Umbrüche ab, die sie selbst aus der Nähe beobachtet und miterlebt hatte. So ist es auch heute in Lateinamerika. Abseits alter Tropen- und Einsamkeitsklischees tauchen die Journalisten in die brodelnde Welt der Megacitys ein und beschreiben Verhaltensmodelle in dieser stets von Gewalt überschatteten Welt: erpresserische Entführungen, Menschenschmuggel und die wachsende Macht der Drogenbanden. Der Antrieb ist immer ein aufklärerischer, demokratischer – auch wenn sie damit das eigene Leben in Gefahr bringen.
Der Schriftsteller Darío Jaramillo Aguedo (wie Salcedo Ramos ein Kolumbianer) schreibt im Vorwort einer von ihm herausgebenden Anthologie aktueller „Crónicas“, diese Darstellungsform der erzählenden Prosa sei in Lateinamerika die derzeit „spannendste und am besten geschriebene Lektüre“. Darüber kann man sicher streiten. Für außerhalb dieser aufstrebenden Weltregion Lebende ist sie aber sicher eine gute Möglichkeit, der gegenwärtigen Lebensrealität und Kultur Lateinamerikas näher zu kommen.
Literatur:
Erhard Stackl (Hg.): „Atención! Die besten Reportagen aus Lateinamerika“ Czernin Verlag Wien 2014, 208 Seiten, 19,90 Euro
Carmen Pinilla, Frank Wegner (Hg.): „Verdammter Süden. Das andere Amerika“. Edition Suhrkamp, Berlin 2014, 315 Seiten, 20,56 Euro
Darío Jaramillo Agudelo, ed: “Antología de crónica latinoamericana actual” Alfaguara/Grupo Editorial Random House, Barcelona 2012, 656 páginas, 21,50 Euro
*Erhard Stackl (1948, Wien-Mödling), MA in Latin American Studies der Universität Wien. 1970 Gründungsmitglied des Nachrichtenmagazins „profil“, später dort Leiter des Ressorts Außenpolitik und stellvertretender Chefredakteur. Ab 1991 bei der Wiener Tageszeitung „Der Standard“, seit 2009 freischaffender Autor und Journalist. Beiträge Stackls sind u.a. ,in „Die Zeit“ (Hamburg), „El País“(Madrid) in „The New York Times – International Weekly“, im „Südwind-Magazin“ und im „Jüdischen Echo“ erschienen. Stackl ist Träger des Menschenrechtspreises des Österreichischen Roten Kreuzes. Sein Buch „1989 – Sturz der Diktaturen“ wurde 2009 mit dem Bruno-Kreisky-Preis ausgezeichnet. Jüngste Buchveröffentlichung: „Atención – Die besten Reportagen aus Lateinamerika“ (Czernin Verlag).[:]