Edición 9

Der Zauberdoktor aus Amazonien

Eine Reisereportage von Lívia Mata

Ein brasilianischer Dschungelarzt erzählt über die deutsche Pünktlichkeit, zahnlose Krokodile und Slapstick gegen Kindersterblichkeit. Was für eine Wiener Familie als exotische Urlaubsreise geplant war, verwandelte sich zum Anschauungsunterricht praktizierter Weltverbesserung mit Aha-Effekt! 

 

„Ah, Eugenio? Der spinnt doch…“. Frau Conceição, die Gasthausbesitzerin, lässt den Zeigefinger neben ihrer Schläfe kreisen. „Der Spinner” heißt Dr. Eugenio Scannavino und ist Arzt. Er wollte uns ein wirklich besonderes Dschungelerlebnis vermitteln: Übernachten im Urwald, ohne Zelt, nur auf Hängematten, zwischen Baumstämmen aufgespannt. Aber weil er wieder einmal wegen eines medizinischen Notfalls ganz schnell weg musste, konnte er uns nicht begleiten.

Wir befinden uns im brasilianischen Bundesland Pará, vor uns der gewaltige Fluss Tapajós. Von Wien über Rio und Belém nach Santaré, dann eine halbe Stunde mit dem Auto bis Alter do Cha᷉o, wovon es noch einmal eine Stunde mit dem Schnellboot bis Jamaraquá, diesem winzigen Dorf am Flussufer, dauert. Wir sind ein Wiener, zwei austro-brasilianische Buben, fünfzehn und elf Jahre alt, und ich, aus Brasilien und seit einer Ewigkeit in Wien beheimatet. Uns war die Wildnis in Jamaraquá schon wild genug, also verzichteten wir auf das nächtliche Dschungelcamp und schliefen in einer Holzhütte auf Hängematten. Am nächsten Tag machten wir eine Kanutour durch die unberührten Nebenarme des Tapajós. So ein schönes Sonnenlicht habe ich noch nirgendwo gesehen. Es hat sich gelohnt, so weit zu reisen und auf den Vorschlag der Kinder einzugehen.

Meine Buben wollten jedenfalls echte Indianer sehen, brasilianische Ureinwohner. Und ausgerechnet ich, die ich Europa besser kenne als meine eigene Heimat, sollte bitte die Reise organisieren. Da fiel mir ein: Eugenio, ein Kumpel aus den wilden Achtzigern in São Paulo lebt doch irgendwo dort. Anfang der neunziger Jahre bin ich ins Flugzeug Richtung Europa gestiegen und er Richtung Amazonien. Facebook sei Dank war er schnell aufgespürt. Via Messenger schrieb er mir auf meine Nachfrage: „Na ja, Indianer wirst du nicht sehen, hier gibt es nur „Ribeirinhos“. Sie sind die Nachfahren der Indianer, aber mit westlicher Kleidung…“ Passt schon! Kinder, packen wir die Koffer!

Schweine aus der EU fressen Soja, das in Amazonien angebaut wurde. Illegales Holz mit gefälschter Umweltzeichnung wird in die EU exportiert und steckt in unseren Möbeln. Amazonien ist überall, aber niemand schützt den Dschungel vor Ort. Niemand? Doch. Es gibt einige Bevölkerungsgruppen, die bis heute von den Medien und der Weltöffentlichkeit nicht wahrgenommen werden und daher so gut wie unsichtbar sind. Diese Gruppen sind die einzigen, die das Potential haben, die „Lungen der Erde“- wie Amazonien auch gennant wird – zu schützen. Zu ihnen gehören zum Beispiel auch die erwähnten Ribeirinhos, welche am Flussufer siedeln und hauptsächlich von traditioneller Fischerei leben.

Rio Tapajós. Foto Livia Mata Rio Tapajós. Foto Livia Mata

 

Ich wollte die Reise möglichst risikoarm gestalten. Bitte keine Malaria, wenig Moskitos und ein Ambulatorium in der Nähe. Der kleine Ort Alter do Chão erwies sich diesbezüglich als perfekt. Kaum zu glauben, dass man sich mitten in Amazonien befindet und es auf Grund des klaren Wassers des bis zu 22 Kilometer breiten Tapajós gar keine Moskitos gibt. Ich bin glücklich, meinen Freund in so einer exotischen Gegend wieder zu treffen, die wegen des weißen Sandes und der unzähligen Flussstrände als „amazonische Karibik“ bekannt ist.

 

„Achthundert Comunidades, die noch nie im Leben einen Arzt gesehen haben!“

 

1984 gleich nach seiner Graduierung wurde Eugenio von Santaréms Bürgermeister kontaktiert, ob er vielleicht Lust hätte, als Arzt für achthundert Comunidades (Gemeinden) zu arbeiten. „Achthundert Comunidades, die noch nie im Leben einen Arzt gesehen haben!“ Eugenio nahm an und behandelte monatelang Patientinnen und Patienten mit immer wieder den gleichen Krankheiten. „Durchfall, Zahnschmerzen, Durchfall, Blutarmut, Durchfall.” Kein Wunder, in den Comunidades war Kanalisation ein Fremdwort. Die Notdurft wurde in der Wildnis verrichtet. Durch den starken tropischen Regen gelangten die Exkremente in die Nebenflüsse, wo die Einwohner*innen das Wasser trinken. „Die Ribeirinhos mussten geschult werden, wir mussten den Menschen die Grundlage der Abwasserentsorgung beibringen, weil man nur so diesen teuflischen Kreislauf durchbrechen kann.“, erklärt Eugenio. Er fing an, Vorträge zu halten, aber die Ribeirinhos waren sehr misstrauisch: „Plötzlich kommt ein Herr Doktor aus der Stadt und will uns sagen, wie wir leben müssen?“ Der Arzt brauchte einen Draht zu den Menschen, damit sie ihm zuhörten. Eugenio entwickelte eine Art Zirkusspektakel, wo solche Gesundheitsmaßnahmen spielerisch erzählt wurden. Das war ein riesiger Erfolg für Groß und Klein und die Geburtsstunde des Projekts „Saúde & Alegria“ (Gesundheit & Fröhlichkeit). „Wir machten riesige Fortschritte. In den Gegenden, wo wir aktiv waren, sank die Kindersterblichkeit stark.“ Den Politikern ging das alles zu weit. „Es war noch Diktatur. Ich war ein bekennender Linksaktivist mit langen Haaren, Vollbart und als Arzt hatte ich großen Einfluss auf die Einheimischen. Also für die Politiker war ich ein gefährlicher Kommunist.“, lacht der Arzt. Eugenio wurde schließlich politisch verfolgt und musste die Gegend zügig verlassen.

Eugenio (links) und Caetano Scannavino (rechts). Foto Livia Mata Eugenio (links) und Caetano Scannavino (rechts). Foto Livia Mata

Nach dem Ende der Diktatur lud die Brasilianische Entwicklungsbank (BNDES) Eugenio ein, das Projekt wieder aufzunehmen. 1988 schloss sich auch sein Bruder Caetano Scannavino dem Projekt an. Er erinnert sich: „Am Anfang war ich schockiert. Es ist schon traurig genug, wenn ein Kind wegen Krebs stirbt. Aber fast im dritten Jahrtausend mitansehen zu müssen, wie ein Kind wegen Durchfall sein Leben verliert? Das ist inakzeptabel!“

Die Brüder Scannavino bringen uns mit der Lancha rápida (Schnellboot) zum Dorf Pindobal. Es ist spät am Nachmittag, wir nehmen gleich am Flussufer wieder Platz, wo uns ein traditionelles Gericht aus Reis, hellen Bohnen, Farofa (geröstetes Maniokamehl) und ein Süßwasserfisch serviert wird. Aber was für ein Fisch! Gut fünfzig Zentimeter lang und dreißig Zentimeter breit ist der Tambaqui. Eine Hälfte davon reicht für sechs Leute aus. Die Kinder spielen am Wasser. „Ist es gefährlich?“, frage ich besorgt. Eugenio lacht. „Hier in Amazonien haben die Krokodile keine Zähne und die Piranhas sind Vegetarier.“

Die Brüder erzählen weiter. Um das Projekt weiter finanzieren zu können und noch mehr Comunidades mit ihrer Versorgung zu erreichen, suchten sie Hilfe außerhalb Brasiliens. Um andere Länder zu überzeugen, dass in Gesundheit für die Amazonier zu investieren, gleichzeitig bedeutete, die Wälder zu schützen, mussten die Brüder jahrelang harte Überzeugungsarbeit leisten. „Die Geldgeber aus dem Gesundheitsbereich argumentierten, dass wir eigentlich eine Umweltschutzorganisation wären, Geldgeber aus dem Umweltbereich sagten, wir sollten es bei den Gesundheitsbehörden versuchen. Und immer wieder mussten wir erklären, wie wichtig es ist, die Urbevölkerung im Wald zu behalten und zu betreuen, weil sie die echten Beschützer sind“. Viele Umweltprojekte funktionieren nur kurzfristig, weil die Urbevölkerung nicht einbezogen wird. Sobald die Umweltschützer*innen heimkehren, kommen die Madeireiros (Holzfäller) und holzen das Gebiet wieder ab. „Es funktioniert nicht, wenn man Waldschutz nur verordnet. Wenn der Ureinwohner nichts zu essen hat, verkauft er sein Grundstück an die Madeireiros und emigriert”, erklärt Caetano. Die Wälder werden abgeholzt und zurück bleibt eine riesige leere flache Erde, sozusagen eine Einladung für die Rinderzüchter. „Solange die Urbevölkerung im Wald bleibt, werden die Wälder erhalten. Diese Menschen sollten vom Staat unterstützt werden. Aber das Einzige, was sie bekommen, sind Kugeln von den Großgrundbesitzern“, sagt Eugenio. Und sie selbst? Fürchten die Brüder nicht um ihr Leben? „Wir sind bei den Landbesitzern Personae non gratae. Aber wir sind nicht radikal, wir versuchen mittels Dialog zwischen Großgrundbesitzern und Ribeirinhos zu vermitteln. Hier ist kein Platz für Utopie.“, antwortet Caetano. Sie sind das perfekte Duo, denke ich: ein Bruder kümmert sich um die Menschen und um ihre Gesundheit, der andere um die Beziehungen und die Verbindung verschiedener Interessen, um den Amazonaswald zu erhalten.

Habitação tipica. Foto Livia Mata
Habitação tipica. Foto Livia Mata

Die deutsche Pünktlichkeit

Das Duo, so fahren die Brüder fort, suchte Hilfe bei internationalen Unterstützern: „Aber am Anfang war es sehr schwierig mit den „Gringos“ (Ausländer*innen).“ Eugenio erzählt von vielen lustigen Zwischenfällen, Kulturschocks sozusagen. „Ich war mit einem deutschen Manager am Hafen von Santarém verabredet und vorsichtigerweise habe ich noch deutlich „ungefähr 18 Uhr” gesagt. Denn der Arzt weiß Bescheid, wie hier alles funktioniert. Schiffe fahren nur los, wenn sie voll sind, sie werden unterwegs kaputt, Strömungen verspäten alles, eine Frau bringt an Bord nebenbei ein Kind zur Welt, und so weiter. „Und darum war ich ganz stolz, dass mein Schiff nur eine Dreiviertelstunde Verspätung hatte. Das Schiff näherte sich dem Ufer. Ich postierte mich am Bug. Da sah ich ihn am Hafen stehen und öffnete lächelnd meine Arme in seine Richtung. Er hingegen reagiert mit einer ganz anderen Geste…“ Zur Illustration steht Eugenio auf und tippt in kerzengerader Haltung und mit zusammengekniffenen Lippen mehrmals mit dem Zeigefinger auf seine Armbanduhr. „Stell dir das vor, der Typ beschwerte sich wegen einer Dreiviertelstunde Verspätung! Da dachte ich mir: „Oh je, der Deutsche hat wirklich keine Ahnung…“.“

Tag drei. Bevor wir in das Boot für unseren nächsten Ausflug einsteigen, fragt uns Carlinhos, der freundlicher Kapitän, was wir zu Mittag essen möchten: „Peixe ou galinha caipira?“ (Fisch oder wildes Huhn?). Mit ein paar Telefonaten hat Carlinhos unseren ganzen Tag geplant und einige Landsleute engagiert: Dona Zulmira als Köchin und ihre Enkelkinder als Kellnerinnen sowie zwei Betreuer, die uns durch den Ort führen. Das Mobiltelefon hat für die Dschungelbewohner*innen eine enorme Entwicklung gebracht. Früher war eine fixe Telefonleitung sehr teuer und man musste jahrelang warten, bis die Behörden kamen, um die Leitung zu installieren. Mobilfunktürme sind da billiger und einfacher zu bauen. Die einzige Pousada (Unterkunft) im Dorf ist ein großer, runder Raum mit Strohdach und einem dicken Pfosten in der Mitte, von dem aus die Hängematten sternförmig zur Außenwand hängen. Es gibt kein Bett, keine Zwischenwände. „Das ist nur ein Tagesausflug, ich werde nicht hier übernachten müssen.“, denke ich beruhigt. Ich, die einzige gebürtige Brasilianerin in der Familie, schaffe es nicht, eine ganze Nacht in der Hängematte zu schlafen! Beschämend…

Saúde & Alegria hat seit Langem seine Kapazität über den Gesundheitsbereich hinaus erweitert. Auch mit den Schulen wird eng zusammengearbeitet, Lehrpläne werden adaptiert: „Die Schüler bekommen Bücher, in denen über Erdbeeren, Schlösser und Schnee erzählt wird. Wer will da lesen lernen, wenn sie nicht einmal wissen, was diese Begriffe bedeuten?“, erklärt uns Eugenio, während er unsere Schnapsgläser noch einmal mit Cachaça de Jambú (Zuckerrohrschnaps, versetzt mit dem beliebten, spinatähnlichen Gemüse Jambú) auffüllt. Der Schnaps besitzt die eigenartige Eigenschaft, Zunge und Lippen minutenlang leicht zu betäuben. Es ist schon Abend und wir sind zurück im Zentrum von Alter do Chão. Die Lokale am Hauptplatz sind voll, „Carimbó“ wird live gespielt und getanzt. Der ursprünglich indianische Rhythmus hat im Lauf der Zeit afrikanische und portugiesische Elemente integriert. Die große Trommel herrscht über die anderen Instrumente. Aber wir wissen noch nicht alles. „Morgen zeige ich euch unsere größte Errungenschaft.“, verabschiedet sich Eugenio.

Eugenio Scannavino. Foto Livia Mata Eugenio Scannavino. Foto Livia Mata 

„Abaré“: Der Freund, der sich kümmert

Wir sind am Hafen von Santarém, es ist Sonntag am frühen Morgen und die Brüder zeigen uns das Schiff „Abaré“ („der Freund, der sich kümmert“ in der Sprache Tupi-Guarani). Auf den ersten Blick wirkt es wie ein typisches amazonisches Wasserfahrzeug. Wir gehen an Bord und erblicken die üblichen Hängematten als Sitz- und Liegegelegenheiten auf dem Oberdeck. Die Brüder spazieren mit uns durch die Räume darunter. „Mama, das ist wie im Krankenhaus!“, sagen die Kinder verwirrt. „Richtig!“, bestätigt Eugenio. „Das ist ein Barco-Hospital (Schwimmendes Krankenhaus).“ Er hilft einem Kind einen weißen Kittel anzuziehen, dem anderen hängt er ein Stethoskop um den Hals. „Irgendwann wurde unser Tätigkeitsgebiet wirklich sehr groß und oft konnten wir ohne angemessene medizinische Ausrüstung den Menschen nicht helfen. Das Spitalsschiff war die ideale Lösung, um die Patienten schneller zu erreichen.“, sagt Caetano. Eugenio erzählt uns über die Schwierigkeiten der Urwaldbewohner*innen, zu einer geeigneten medizinischen Versorgung zu kommen: „Der Ureinwohner muss krank zu Fuß mehrere Stunden bis zum Flussufer gehen. Dort wartet er ein paar Tage, bis ihn endlich ein Schiff in die Stadt mitnimmt. Dort angekommen muss er noch drei oder vier Tage auf einen Termin warten. Endlich wird er von einem Arzt untersucht. Das Ergebnis kommt eine Woche später, dann muss er die Medikamente kaufen… Währenddessen musste er viel Geld mit Essen und Unterkunft ausgeben. Die meisten, die im Wald ernsthaft krank sind und dringend medizinische Behandlung brauchen, verzichten auf dieses Martyrium. Sie sterben lieber zu Hause bei ihrer Familie als in der Stadt, wo sie niemanden kennen. „Wenn die Menschen nicht zum Spital kommen können, bringen wir das Spital zu ihnen!“, dachten Eugenio und Caetano. Mit Hilfe holländischer Schiffstechnologie schafften sie es, das erste Barco-Hospital in Betrieb zu nehmen. Im Schiff gibt es eine Apotheke, eine Ambulanz, Ordinationsräume und einen Operationssaal für kleine Eingriffe. Das Barco-Hospital wurde ein riesiger Erfolg. Die Regierung adoptierte die Idee und heutzutage sind 60 derartige Schiffe in Amazonien unterwegs. Der Staat erkannte, dass so eine Unternehmung nur 10% der Kosten normaler stationärer Krankenhäuser verursacht. Durchschnittlich können von hundert Patient*innen dreiundneunzig gleich an Bord behandelt werden. Nur sieben müssen dazu in die Stadt transferiert werden.

„Wir wollen nicht statt des Staates agieren. Unser Ziel ist es, die staatliche Tätigkeit zu unterstützen.“, sagt Caetano. Plötzlich kommt am Ufer  jemand gelaufen und ruft: „Doutor, doutor, rápido!“ (Doktor, Doktor, schnell!). Eugenio seufzt und wischt sich den Schweiß  aus der Stirn. Der „spinnende Doktor“ schnappt sich das Stethoskop von meinem Kind zurück. Bevor er aus dem Boot steigt, dreht er sich zu uns um und sagt: „Und mein größtes Ziel ist es, eigentlich als Doktor überflüssig zu werden!“

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